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Atmosphärische Führung im Zeitalter der Digitalisierung

Die voranschreitende Digitalisierung ist gerade dabei, unsere Arbeitswelt grundlegend auf den Kopf zu stellen. Bei der digitalen Transformation geht es nicht nur um einen tiefgreifenden Wandel hin zu einer Automatisierung und Optimierung von Arbeitsprozessen, sondern um eine grundlegende Veränderung des menschlichen Selbstverständnisses. Die Digitalisierung führt zu einem umfassenden Kulturwandel, der in Anlehnung an „Industrie 4.0“ auch als „Kulturwandel 4.0“ bezeichnet wird.

War es der Mensch bislang gewohnt, Maschinen für sich arbeiten zu lassen, können diese mittlerweile selbständig Millionen von Daten auswerten und Lösungen entwickeln, die sich für Normalsterbliche nicht mehr nachvollziehen lassen – und dies, obwohl sich die Künstliche Intelligenz gerade in der Interaktion mit Menschen oft als fehlerhaft erweist und beispielsweise die Vorurteile der Programmierer versteckt zur Grundlage ihrer Lernprozesse macht (Brynjolfsson/McAffee 2017, S. 27).

Im Zeitalter der Digitalisierung dreht sich das Verhältnis von Mensch und Maschine gewissermaßen um: Der Mensch versteht nicht, was die Maschine tut, soll ihre Ergebnisse aber zu den Maximen seines Handelns erheben. Ob dies in einem logischen oder ethischen Sinne richtig ist, wird für den Menschen zu einem unentscheidbaren Problem. Paradoxerweise führt die Digitalisierung also gerade nicht zu einer Reduzierung von Mehrdeutigkeit und Komplexität, sondern macht diese zum grundlegenden Merkmal der digitalen, aber auch der sozialen Welt. Der Mensch wird in eine passive Rolle gedrängt, in der er um Identität ringt und nach einer sinnstiftenden Tätigkeit sucht.

Es kann also kaum verwundern, dass sich in vielen Unternehmen bei den Mitarbeitern Orientierungslosigkeit und Angst breit macht und vielerorts mit Frustration und einem hohen Krankenstand gekämpft wird. Viele Unternehmen haben zwar erkannt, dass sie ihre Mitarbeiter in diesem kulturellen Wandel nicht alleine lassen dürfen, es fehlen ihnen aber die konkreten Ansatzpunkte. Da sich der technologische Fortschritt aber kaum aufhalten lassen wird, müssen sich die Menschen irgendwie mit ihm arrangieren. In Unternehmen sind vor allem die Führungskräfte gefragt, den Mitarbeitern ihre Ängste zu nehmen, sie bei der Suche nach einer neuen Identität zu unterstützen und sie für die sich ergebenden neuen Möglichkeiten zu sensibilisieren. An welchem Punkt sie dabei ansetzen sollte, verdeutlicht eine aktuelle Studie.

Atmosphärengestaltung als Schlüsselkompetenz in der Digitalisierung

Die repräsentative Online-Studie „Arbeitsmotivation 2018“ der ManpowerGroup, bei der 1.022 Bundesbürger teilgenommen haben, stellt als Kernergebnis ihrer Befragung heraus, dass eine „angenehme und kollegiale Arbeitsatmosphäre“ neben flexiblen Arbeitszeiten „die Arbeitsmotivation am meisten“ verstärkt (ManpowerGroup 2018, S. 4). Mit 46% Zustimmung war das gute Arbeitsverhältnis zu Kollegen und Vorgesetzten der meistgenannte positive Einfluss auf die Motivation. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt die im Jahre 2015 von XING und Forsa durchgeführte Umfrage „Arbeiten und Leben in Deutschland 2015“, bei der die „positive Arbeitsatmosphäre“ von 98% der Befragten als wichtiger Faktor bei einem Jobwechsel hervorgehoben wurde (Däfler/Dannhäuser 2016, S. 6). Es scheint, als würde der Atmosphäre im Rahmen der Digitalisierung eine immer größere Bedeutung zugesprochen. Doch woran liegt das?

Die Antwort ist vielleicht überraschend und profan zugleich: Atmosphären sind einige der wenigen Dinge – oder „Halbdinge“, wie der Philosoph Hermann Schmitz sie nennt (Schmitz 2007, S. 267) –, die sich nicht auf messbare Einheiten reduzieren und damit auch nicht digitalisieren lassen. Atmosphären betten den Menschen ganzheitlich in seine Situation ein und verleihen seinem Dasein eine sinnstiftende Wirkung. Als soziales Phänomen haben Atmosphären überdies einen verbindenden Charakter und können eine Gemeinschaft regelrecht zusammenschweißen. Da dieselbe Atmosphäre von verschiedenen Menschen in verschiedenen Situationen höchst unterschiedlich wahrgenommen werden kann, lassen sich Atmosphären jedoch nicht (oder nur sehr eingeschränkt) durch Künstliche Intelligenz produzieren. Eine positive Atmosphäre zu schaffen, ist eine menschliche Aufgabe, die ein Verständnis für den spezifischen Kontext einer Situation voraussetzt. So sehr unsere Zukunft von Künstlicher Intelligenz bestimmt wird, sie wird nie in der Lage sein, eine angespannte Atmosphäre mit einem selbstironischen Witz aufzulösen, Menschen mit fesselnden Worten in ihren Bann zu ziehen oder soziale Kräfte wie Scham, Neid, Mitleid und Solidarität zu nutzen, um andere zu inspirieren oder sie für die eigene Sache zu überzeugen (Brynjolfsson/McAffee 2017, S. 34).

Gerade weil sich der Umgang mit Atmosphären nicht digitalisieren lässt, wird er zunehmend zu einer Schlüsselkompetenz. Denn ein positives Betriebsklima wirkt sich entscheidend auf die Produktivität eines Unternehmens aus. Auch wenn Atmosphären selbst nicht gemessen werden können, beeinflussen sie etwas Messbares wie den Gewinn oder den Umsatz eines Unternehmens. In der Verantwortung für die Kreierung einer Atmosphäre, in der Mitarbeiter gerne arbeiten, steht dabei in erster Linie die Führungskraft. Ihre atmosphärische Kompetenz wird in Zukunft entscheidend sein, dem Menschen ein Umfeld zu schaffen, das er als sinnstiftend wahrnimmt. Dafür braucht die Führungskraft ein situatives Fingerspitzengefühl. Dieses lässt sich zwar nicht in Bits und Bytes übersetzen, kann aber gezielt entwickelt und kultiviert werden.

Die Schwierigkeit der Atmosphärengestaltung

Trotz der unabweisbaren Relevanz atmosphärischer Konstellationen für den Führungsalltag sind führungspraktische Ansätze, die den systematischen Umgang mit Atmosphären in den Mittelpunkt stellen, allerdings Mangelware. Derartige Ansätze sind jedoch essenziell, da sich die gezielte Beeinflussung der atmosphärischen Gemengelage in einem Betrieb oder einer Abteilung ohne systematischen Ansatz als äußert diffizile Angelegenheit herausstellt. Dies liegt daran, dass Atmosphären schon begrifflich sehr schwer zu fassen sind. In gewisser Weise geht es uns mit dem Begriff der Atmosphäre so wie Augustinus mit dem Begriff der Zeit. Auf die Frage „Was ist Zeit?“ antwortete er: „Wenn mich niemand fragt, dann weiß ich es; sobald ich aber gefragt werde, kann ich es nicht erklären“ (Augustinus‚ Confessiones XI, 14). Ähnlich müsste man auch auf die Frage „Was sind Atmosphären?“ antworten. Wir können uns zwar im Alltag mühelos über die angespannte oder gelöste Atmosphäre eines Meetings austauschen und sind uns grundsätzlich über die Bedeutung von Atmosphären bewusst. Sobald wir aber erklären sollen, was Atmosphären eigentlich sind, verrinnt einem der Begriff schnell wie Sand zwischen den Fingern. Jeder denkt zu wissen, was Atmosphären sind, kommt aber in Verlegenheit, wenn er dieses Wissen in Begriffe fassen soll. Solange sich Atmosphären nur schwer greifen lassen, sind sie jedoch auch nur schwer in den Griff zu bekommen.

Der erste Schritt, Atmosphären zu gestalten, besteht grundsätzlich darin, sie begrifflich fassen und ihre mannigfaltigen Erscheinungsweisen in ein geordnetes System bringen zu können. Wer Atmosphären beschreiben und einordnen kann, hat im Prinzip schon eine Grundkompetenz erlangt, sie zu verändern. Alleine durch das Benennen kann sich eine Atmosphäre grundlegend wandeln. Atmosphären wirken meist subtil und unbewusst, sind aber gerade dadurch sehr mächtig. Eine angespannte Atmosphäre als solche zu bezeichnen, kann bereits eine wirkungsvolle Technik sein, die Anspannung aufzulösen, da die Atmosphäre gewissermaßen aus dem Unbewussten in den Bereich des Bewusstseins geholt wird. Das Sprechen über Atmosphären ermöglicht es, sich ein Stück weit von ihnen zu emanzipieren und die Situation neu zu ordnen. Das Wissen um die Anspannung eröffnet die Möglichkeit, die Anspannung aufzulösen und in eine Atmosphäre der Entspannung zu transformieren.

Atmosphärische Kultivierung mit Atmospheric Leadership

An diesem Punkt des Sprechen-Lernens über Atmosphären setzt die Atmospheric-Leadership-Methode an. Sie bietet aber nicht nur eine Sprache zur Beschreibung von Atmosphären, sondern ermöglicht durch ihre stringente Systematik auch deren differenzierte Einordnung. Das Besondere an der Methode ist ihre wissenschaftliche Fundierung in der Philosophie und der ethischen Anthropologie. Philosophisch baut sie auf den Arbeiten von Hermann Schmitz auf, dessen sogenannte Neue Phänomenologie (Schmitz 1964) die moderne Atmosphärenforschung begründet hat und bereits in vielen praktischen Bereichen wie Medizin, Psychologie, Architektur, Pädagogik oder Kunst Anwendung gefunden hat. Mit der Atmospheric-Leadership-Methode lassen sich die Erkenntnisse der Neuen Phänomenologie, die das Spüren des Menschen in seiner Umgebung in den Vordergrund stellen, nun auch für die Führungspraxis nutzbar machen. Darüber hinaus fließen in die Methode auch unsere eigenen Forschungen über Atmosphären mit ein (z. B. Rappe 2012; Julmi 2017; Julmi/Rappe 2018), die an die Neue Phänomenologie anschließen, diese aber insbesondere im Bereich der zwischenmenschlichen Kommunikation wesentlich erweitern, so dass wir eine eigene Denkrichtung entwickelt haben, die wir Moderne Phänomenologie nennen.

Neben der philosophischen Fundierung spielt die Ethik eine bedeutende Rolle für die Kunst der atmosphärischen Führung. Wir gehen davon aus, dass sich atmosphärische Kräfte vor allem von der Präsenz und der Persönlichkeit einer Führungskraft aus entfalten. Die gute Atmosphäre beginnt bei der Ausstrahlung der Führungskraft und setzt ihren Willen voraus, eine authentische Persönlichkeit zu entwickeln und die eigenen sozialen Führungskompetenzen zu kultivieren. Im Gegensatz zu Worten lügen Atmosphären eigentlich sehr selten und sagen meist mehr über die anwesenden Personen aus, als ihnen lieb ist. Wer eine Fassade aufbauen möchte, muss jederzeit die Kontrolle über seine Fassade aufrechterhalten. Wer Atmosphären verändern möchte, muss sich ihnen aber öffnen, um aus der jeweiligen Situation heraus Veränderungen anstoßen zu können. Atmosphären lassen sich genauso wenig erzwingen wie das Einschlafen oder Geistesblitze. Der Umgang mit ihnen setzt ein Loslassen voraus, das mit der Atmospheric-Leadership-Methode kultiviert werden kann.

Der Unterschied zwischen Mensch und Maschine wird oft und vollkommen zu Recht daran festgemacht, dass Maschinen nicht zwischen „gut“ und „schlecht“ (oder „böse“) unterscheiden können. Diesen Unterschied zu kennen und ihn auch zu machen, wird immer eine menschliche Angelegenheit bleiben. Die Erlangung und Praktizierung einer guten atmosphärischen Kompetenz stellt damit nicht nur die zentrale Aufgabe, sondern auch die zentrale Verantwortung der Führungskräfte im Zeitalter der Digitalisierung dar. Packen wir es an.

 

Literatur

Brynjolfsson, Erik/McAffee, Andrew: Von Managern und Maschinen, in: Harvard Business Manager 28 (11/2017), S. 22-34

Däfler, Martin-Niels/Dannhäuser, Ralph: Glücklicher im Beruf, Wiesbaden 2016

Julmi, Christian: Situations and atmospheres in organizations. A (new) phenomenology of being-in-the-organization, Milan, Udine 2017

Julmi, Christian/Rappe, Guido: Atmosphärische Führung. Stimmungen wahrnehmen und gezielt beeinflussen, München 2018

ManpowerGroup: Bevölkerungsbefragung Arbeitsmotivation 2018, zuletzt geprüft am 24.04.2018

Rappe, Guido: Leib und Subjekt. Phänomenologische Beiträge zu einem erweiterten Menschenbild, Bochum 2012

Schmitz, Hermann: System der Philosophie, Bd. I: Die Gegenwart, Bonn 1964

Schmitz, Hermann: Gefühle als Atmosphären, in: Debus, Stephan/Posner, Roland (Hrsg.): Atmosphären im Alltag. Über ihre Erzeugung und Wirkung, Bonn 2007, S. 260-280