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Ich fühle, also weiß ich! Über Subjektivität als Kriterium von Wahrheit

„Das ist doch subjektiv!“ – Wer so etwas sagt, möchte die Aussage des Gegenübers als bloße Meinung abwerten, die mit Fakten wenig zu tun hat und daher in den Bereich der Fiktion gehört. Nur wer objektiv ist, kann über die Wahrheit sprechen, und wer Wahres spricht, tut dies objektiv. So trivial das klingen mag, so irreführend ist es. Die Gleichsetzung des Subjektiven mit dem Fiktiven, Illusionären oder Unwirklichen ist eines der größten Missverständnisse unserer Zeit, denn Objektivität und Wahrheit sind etwas Grundverschiedenes.

Was ist eigentlich Objektivität?

Objektivität ist definiert als die Unabhängigkeit eines Urteils von einem Betrachter. Das heißt, ein objektiver Sacherhalt kann prinzipiell von jedem nachvollzogen werden, der über entsprechendes Wissen verfügt. Das heißt aber nicht, dass der objektive Sachverhalt auch wahr ist.

Ein Beispiel: Es gibt mehrere Methoden, den Wert eines Unternehmens zu berechnen. So sind der Cashflow Return on Investment oder der Discounted-Cash-Flow zwei verschiedene Verfahren zur Berechnung des Unternehmenswertes. Beide Verfahren sind objektiv, da jeder, der die Verfahren anwendet und dieselben Bemessungsgrundlagen verwendet, zu demselben Ergebnis kommt. Das Ergebnis ist unabhängig vom Urteil des Betrachters. Nun können aber zwei Verfahren, die zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, nicht gleichzeitig wahr sein. Das wäre paradox. Der „wahre“ Unternehmenswert kann überhaupt nicht objektiv bestimmt werden. Dies gilt nur für Surrogate, von deren Korrelation mit dem wahren Wert man überzeugt sein muss (vgl. Julmi 2018, S. 40). Das heißt wiederum: Das Objektive wird dadurch wahr, dass wir von ihm überzeugt sind. Die Überzeugung ist aber nichts Objektives mehr, sondern etwas Subjektives.

Was ist eigentlich Subjektivität?

Generell ist eine Tatsache subjektiv, wenn eine Person sie nur für sich selbst feststellen kann. Der Philosoph Hermann Schmitz veranschaulicht dies an der Feststellung „Ich bin traurig“. Die Feststellung, dass eine andere Person traurig ist („Sie ist traurig“), unterscheidet sich von der ersten Feststellung darin, dass ihr die gespürte Betroffenheit fehlt, dass es sich dabei um mich handelt, dass die Traurigkeit mich betrifft (auch Meinhaftigkeit, Jemeinigkeit oder Ichgefühl genannt). Man kann sich objektiv über die Traurigkeit verständigen, weil Traurigkeit jeder subjektiv an sich selbst kennt. Die Traurigkeit hat sowohl einen objektiven wie auch einen subjektiven Charakter, wobei der objektiv festgestellten gegenüber der subjektiv empfundenen Traurigkeit das affektive Betroffensein fehlt (vgl. Schmitz 1969, S. 61). Insofern ist die Überzeugung subjektiv, weil sie im Kern diese affektive Nuance hat. Sachverhalte können auf einer rationalen Ebene logisch sein, ohne dass wir von ihnen überzeugt sind. Dann fehlt diese affektive Komponente der Subjektivität, die sie für uns erst zur Wahrheit ‚machen‘.

Subjektivität und Wahrheit gehören eng zusammen

Die Subjektivität bezieht sich nicht wie die Objektivität auf die Dritte-Person-Perspektive, sondern auf die Erste-Person-Perspektive. Das Wesentliche dabei ist aber, dass man subjektive Tatsachen nicht nach Belieben feststellen kann. Wer traurig ist, kann sich seiner Traurigkeit nicht (so einfach) entziehen, indem er oder sie die Traurigkeit leugnet. Die Traurigkeit ist wahr, und ihre Wahrheit gewinnt sie aus ihrer Subjektivität.

Das heißt: Subjektivität und Wahrheit gehören eng zusammen, teilweise enger als Objektivität und Wahrheit. Dies lässt an einem Beispiel zeigen. Nehmen wir an, wir sind beim Arzt, weil wir Schmerzen haben. Das ist natürlich subjektiv („Ich habe Schmerzen!“). Nun kann die Ärztin allerlei objektive Instrumente einsetzen, um dem Schmerz auf den Grund zu gehen. Dies hilft, um den Schmerz zu lokalisieren und zu therapieren. Nun kann es aber sein, dass sich der Schmerz objektiv gar nicht feststellen lässt. Die Ärztin kann dies als Indiz nehmen, dass wir simulieren: „Sie haben keine Schmerzen, denn ich kann nichts feststellen!“. Für die Betroffenen ergibt es aber keinen Unterschied, ob der Schmerz objektiv festgestellt werden kann. Der Schmerz ist für die Spürenden Wirklichkeit, vor der sie sich nicht verstecken können (vgl. Julmi/Scherm 2012, S. 3). Die Wahrheit ergibt sich aus der subjektiven Evidenz, nicht aus der objektiven Richtigkeit der eingesetzten Verfahren. Schmerzen sind für die Betroffenen eine subjektive Tatsache, die sich nicht objektiv widerlegen lässt!

Für eine Rehabilitierung der Subjektivität

Nun soll der Objektivität keineswegs ihre Relevanz abgesprochen werden. Objektivität ist für das soziale Zusammenleben ebenso unabdingbar wie für den menschlichen, den wissenschaftlichen und den technologischen Fortschritt. Niemand will zurück in die Steinzeit oder den Ärzten ihre Instrumente wegnehmen. Vielmehr geht es darum, der Subjektivität den Makel der Zweitklassigkeit zu nehmen und ihre Relevanz für den Menschen und sein Sich-Finden in seiner Umgebung anzuerkennen.

Subjektivität ist Quell unserer Überzeugungen und Widerfahrnisse, unserer Urteile und Überzeugungen, unserer Träume und Triumphe. Subjektivität ist kein Kriterium für fehlende Wahrheit. Ganz im Gegenteil: Nirgendwo ist es so unecht, so falsch und so unwirklich wie dort, wo wir uns subjektiv nicht spüren (können). Natürlich muss die subjektive Wahrheit der einen nicht die subjektive Wahrheit des anderen sein. Aber ebenso wenig folgt aus der Objektivität, dass sie an sich oder für überhaupt jemanden wahr ist – und manchmal ist eine Wahrheit besser als keine.

Literatur

Julmi, Christian: Management jenseits der Rationalität. Intuitive Entscheidungen und deren Reflexion mit der FIRSt-Matrix, in: Controlling 30 (3/2018), S. 39-46

Julmi, Christian/Scherm, Ewald: Subjektivität als Ausdruck von Lebendigkeit, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik 3 (1/2012), S. 1-8

Schmitz, Hermann: System der Philosophie, Bd. III: Der Raum, 2. Teil: Der Gefühlsraum, Bonn 1969