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Situationen gestalten durch atmosphärische Intelligenz

Atmosphärische Intelligenz ist das Vermögen, Atmosphären zu erkennen und sie situativ zu gestalten. Der Beitrag legt die Relevanz atmosphärischer Intelligenz dar, erläutert die im Umgang mit Atmosphären bestehenden Herausforderungen und zeigt Möglichkeiten auf, den atmosphärischen Intelligenzquotienten (AQ) zu erhöhen.

Die Dinnerparty als fragiles Ökosystem

Man stelle sich folgende Situation vor: Zahlreiche Gäste kommen auf einer Dinnerparty zusammen und hinterlassen kleine Geschenke wie Blumen oder Wein als Zeichen der Aufmerksamkeit. Nun sei ein Gast von seinem Essen derart begeistert, dass er, um seiner Begeisterung Ausdruck zu verleihen, an seinem Platz einen größeren Geldbeitrag hinterlässt.

Das geht natürlich überhaupt nicht, und sei es noch so gut gemeint. Obwohl es nur eine – je nach Geldbetrag größere oder kleinere – Geste ist, vermag sie die Atmosphäre des von sozialer Interaktion geprägten Events zu zerstören, indem sie einen kommerziellen Aspekt in ein freundschaftliches Ambiente einbringt (vgl. Benkler 2011, S. 83). In solchen Momenten kann man erleben, wie zerbrechlich Atmosphären sein können, und wie selbstverständlich wir (oder zumindest einige von uns) dennoch mit ihnen umgehen.

Atmosphärische Intelligenz als ganzheitliches Situations-Verstehen

Für den geübten Gast ist der Besuch auf einer Dinnerparty sicher keine Herausforderung. Anders verhält es sich, wenn man weniger geübt ist oder als Gastgeber die beschriebene Situation retten muss. Dann bedarf es eines Gespürs für die momentanen Atmosphären, die sich als Gestimmtheiten am menschlichen Verhalten abzeichnen. Diese zeigt sich an den Mimiken, Körperhaltungen, Arten des Sprechens und der Interaktion zwischen den Anwesenden und ist damit grundsätzlich ‚lesbar‘.

Das Vermögen, Atmosphären zu deuten und in ihnen zu bestehen, bezeichnet der Organisationsberater Raimund Schöll als atmosphärische Intelligenz (vgl. Schöll 2007, S. 328). Sie beruht auf der Erfahrung im Umgang mit Atmosphären und dem daraus resultierenden Lernen ihrer Bedeutsamkeit. In Unternehmen bildet man seine atmosphärische Intelligenz beispielsweise aus, indem man das Wir-Gefühl von gestern von der angestrengten Besprechungsatmosphäre von heute oder der gedrückten Stimmung von morgen unterscheiden und situativ deuten kann.

Die atmosphärische Intelligenz zeigt sich weniger in einem logischen Kombinieren von einzelnen Sachverhalten, die dann einer Schlussfolgerung zugeführt werden. Dies wäre eher das Vorgehen einer analytischen Intelligenz. Die atmosphärische Intelligenz arbeitet mit ganzheitlichen Eindrücken. Sie ist ein intuitives Verstehen der aktuellen Situation, wobei es auch den atmosphärisch Intelligenten oft schwerfällt, dieses Verstehen in Worte zu fassen.

Dies liegt auch daran, dass die atmosphärische Intelligenz leiblich fundiert ist. Leibliche Regungen wie Magendrücken, Beklemmung, Entspannung oder Behaglichkeit können mehr über die Situation aussagen als das, was der analytische Verstand in der Situation kombiniert. Das „Bauchgefühl“ ist für die atmosphärische Intelligenz enorm wichtig. Es geht manchmal sogar über ein ganzheitliches Verstehen hinaus. Man kann z. B. in einer bestimmten Situation ein ungutes Gefühl haben, ohne die Situation oder das ungute Gefühl wirklich zu verstehen. Trotzdem empfiehlt es sich, dieses nicht zu ignorieren.

Ohne atmosphärische Intelligenz hat man es schwer

In anderen Kulturen, speziell im asiatischen Raum (sog. ‚high context cultures‘), ist die atmosphärische Intelligenz oft ausgeprägter als in der ‚westlichen‘ Welt und wird in der Kultur auch stärker als Kompetenz wahrgenommen. Wie das Beispiel der Dinnerparty zeigt, spielen Atmosphären aber auch bei uns eine große Rolle. Einer der Grundgedanken der atmosphärischen Führung ist (frei nach Watzlawick): Wir können nicht nicht atmosphärisch kommunizieren. Wer den Atmosphären keine Beachtung schenkt, handelt nicht selten wie der berüchtigte Elefant im Porzellanladen – mit dem Unterschied, dass er oder sie mitunter gar nicht merkt, wie viel dabei zu Bruch geht.

Wir alle kennen Menschen, die glauben witzig zu sein, aber als Einzige(r) gar nicht merken, dass sie eigentlich peinlich sind; oder andere, die munter vorpreschen und als Vorbild vorangehen wollen, aber nicht merken, dass sie anderen damit auf die Füße treten oder einschüchtern. Aber niemand denkt so etwas von sich selbst (vgl. Halfwassen 2020). Wieso sollten wir nicht diejenigen sein, die peinlich sind oder andere kleinmachen, ohne es zu merken? Wahre atmosphärische Intelligenz kann aber nicht nur die atmosphärische Wirkung der anderen einschätzen, sondern auch die eigene Wirkung, die man in einer Situation auf andere ausstrahlt.

Atmosphären entziehen sich einer direkten Steuerung

Entgegen der Meinung Vieler ist atmosphärische Intelligenz also weder etwas, das in unserer ‚verkopften‘ Welt keine Rolle spielen würde, noch ist es etwas, das man ohne weiteres Zutun von ganz allein entwickelt. Zudem kann man Atmosphären nicht mit der Brechstange gestalten. Atmosphären entstehen zwischen Menschen oder in Organisationen durch zahlreiche sich überkreuzende Interaktionen und Erwartungen der Form: Sie erwartet, dass ich erwarte, dass sie erwartet etc., und aus diesem Geflecht der gegenseitigen Erwartungen entstehen ungeschriebene Gesetze, deren Einhaltung ‚erwartet‘ wird (vgl. Julmi 2017, S. 70). Die Atmosphären sind so in Situationen verstrickt und in sie verwoben, dass sie sich nicht aus ihnen herauslösen lassen bzw. ein solcher Versuch die Situation (wie bei der Dinnerparty) schnell zerstören kann.

Man sagt: Es herrscht eine bestimmte Atmosphäre, und das sagt man, weil Atmosphären wirklich eine Autorität haben, der man sich nicht einfach entziehen kann. Wer in einer gedrückten Stimmung herumalbert, braucht schon viel atmosphärische Intelligenz – und auch atmosphärische Kompetenz, wie der italienische Philosoph Tonino Griffero so schön sagt (vgl. Griffero 2014, S. 211) –, um die Atmosphäre damit auch tatsächlich aufzulockern (wenn dies überhaupt möglich ist). Atmosphärische Intelligenz heißt daher nicht zuletzt, die Autorität von Atmosphären zu erkennen, sie aber auch ‚an‘ zu erkennen. Erst dann kann es gelingen, sie gewissermaßen von innen bzw. aus der Situation heraus zu verändern und damit auch die Situation neu zu gestalten.

Atmosphärische Intelligenz entwickeln

Was soll man also tun, um atmosphärische Intelligenz zu entwickeln bzw. den atmosphärischen Intelligenzquotienten (AQ) zu steigern? Grundsätzlich ist es hilfreich, sich mit der Thematik zunächst einmal auseinanderzusetzen. Wir sehen Atmosphären meistens nicht, weil sie uns zu nah sind, zu alltäglich und selbstverständlich, um sie als Ansatzpunkt zur Gestaltung der Mit- und Umwelt zu erkennen. Das System der atmosphärischen Führung haben wir nicht zuletzt entwickelt, um zu zeigen, dass man sich mit dem Thema der Atmosphären sehr wohl analytisch nähern kann und sich hier ein (Handlungs‑)Feld eröffnet, das systematisch bearbeitet werden kann.

Von einem grundsätzlichen Verständnis für die ‚Welt der Atmosphären‘ ausgehend besteht der wichtigste Ansatzpunkt in der Entwicklung atmosphärischer Intelligenz darin, sich der eigenen Wirkung auf andere bewusst zu werden. Hier können Menschen helfen, die einen neutral spiegeln und nicht nur das sagen, was wir hören wollen, also beispielsweise ein Coach. Eine solche Spiegelung kann schmerzhaft sein und setzt die ernsthafte Bereitschaft voraus, das eigene Selbstbild infrage zu stellen. Darüber hinaus ist es wichtig, die eigene atmosphärische Sensibilität und Achtsamkeit für die Stimmung im Raum beständig zu trainieren und sie zu kultivieren; auch hierfür bietet die atmosphärische Führung konkrete Übungen an (vgl. Julmi/Rappe 2018, S. 163-202).

Das heißt natürlich auch: Atmosphärische Intelligenz lässt sich nicht auf Knopfdruck erzeugen und anwenden. Doch wer sich ihr einmal verschrieben hat, wird schnell anders durch die Welt gehen und die Kontrolle über Situationen gewinnen, die vorher undurchsichtig und unlösbar schienen. Und ist das nicht genau das, was wir wollen?

Literatur

Benkler, Yochai: The unselfish Gene, in: Harvard Business Review 89 (6/2011), S. 76-85

Griffero, Tonino: Who’s afraid of atmospheres (and of their authority)? In: Lebenswelt. Aesthetics and Philosophy of Experience 4 (2014), S. 193-213

Halfwassen, Kathrin: Wie Chefs unbewusst die Stimmung im Team ruinieren. Interview mit Christian Julmi, https://www.impulse.de/management/personalfuehrung/atmosphaerische-fuehrung/7386424.html, 2020, zuletzt geprüft am 25.04.2021

Julmi, Christian: Situations and atmospheres in organizations. A (new) phenomenology of being-in-the-organization, Milan, Udine 2017

Julmi, Christian/Rappe, Guido: Atmosphärische Führung. Stimmungen wahrnehmen und gezielt beeinflussen, München 2018

Schöll, Raimund: Atmosphärische Intelligenz, in: Zeitschrift Führung + Organisation 76 (6/2007), S. 324-330