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Verdammt wenn du es tust, und verflucht wenn nicht – Über Harry, die paratoxische Führungskraft

Wer das Gefühl hat, egal was man tut, es ist immer verkehrt, der hat als Boss vielleicht eine paratoxische Führungskraft. Was sich hinter dem Konzept der paratoxischen Führung verbirgt und wie Harry sein Unternehmen auf Kosten der Belegschaft paratoxisch führt, veranschaulicht dieser Beitrag.

Das Konzept der paratoxischen Führung

Paratoxische Führung bezeichnet eine spezifische Rhetorik, mit der Führungskräfte ihre Mitarbeiter*innen in eine paradoxe Situation bringen, in der jede mögliche Handlung mindestens einer Anweisung widerspricht. Das heißt: Sie haben keine Möglichkeit, das Richtige zu tun, können aber stets für das Falsche verantwortlich gemacht werden.

Mit der gezielten Erzeugung von Paradoxien können Führungskräfte ihre Mitarbeiter*innen effektiv unterdrücken und ihre Ziele auf deren Kosten erreichen. Während die Führungskraft immer fein raus ist, bedrohen solche Praktiken die Gesundheit der Geführten und erzeugen eine Atmosphäre der Angst und der Hilflosigkeit, die eine fatale Abwärtsspirale in Gang setzen kann. Es handelt sich daher um eine toxische Form der Führung, die in Kombination mit der erzeugten Paradoxie als paratoxische Führung bezeichnet wird.

Wie paratoxische Führung in der Praxis funktioniert, will ich anhand eines fiktiven Beispiels veranschaulichen, in dem Harry als paratoxische Führungskraft den Bösewicht – und leider auch die Hauptrolle – spielt.

Harry steht vor einer Herausforderung

Harry ist Gründer des Blockchain-Startups BronkoBon, das Grundlagentechnologie entwickelt und mit seiner eigenen Kryptowährung, dem BronKoin, den Zahlungsverkehr für einen Kunden abwickelt. Diese Zusammenarbeit bindet bei BronkoBon zwar viele Ressourcen, die generierten Einnahmen aus dem Tagesgeschäft sind für das junge Unternehmen allerdings einzige Einnahmequelle überhaupt und damit überlebensnotwendig.

Der Kunde agiert allerdings in einer relativ kleinen Nische, deren „Use Case“ (Anwendungsfall) sich weder skalieren noch auf andere Märkte übertragen lässt. Um sich für die Zukunft zu rüsten und den Anschluss an die technologischen Entwicklungen nicht zu verlieren, muss BronkoBon daher seine Grundlagentechnologie weiter vorantreiben und weitere „Use Cases“ für den BronKoin entwickeln.

Um seine Mitarbeiter*innen die Dringlichkeit dieser Entwicklungsarbeit vor Augen zu führen, macht Harry in seinen monatlichen Ansprachen vor der gesamten Belegschaft wiederholt deutlich, dass er von allen Beteiligten eine aktive Mitarbeit an der Entwicklungsarbeit erwartet. Schließlich stehe die Zukunft von BronkoBon auf dem Spiel. In persönlichen Gesprächen mit den Mitarbeiter*innen zeigt Harry allerdings ein anderes Gesicht: Hier wird er nicht müde zu betonen, dass die oberste Priorität darin liegt, möglichst viel Arbeitszeit für den Kunden zu investieren. Schließlich geht es ums Überleben.

Harry bringt seine Belegschaft in eine Zwickmühle

Damit erzeugt Harry für seine Mitarbeiter*innen eine Paradoxie, die diese nicht auflösen können. Die Mitarbeit an der Weiterentwicklung der Grundlagentechnologie ist nicht abrechenbar. Sie verstößt damit gegen die zweite Aufforderung, möglichst viel Arbeitszeit dem Kunden in Rechnung zu stellen. Wer allerdings seine gesamte Zeit dem Kunden in Rechnung stellt, erfüllt zwar die zweite Aufforderung, verstößt aber exakt mit der Erfüllung der zweiten Aufforderung gegen die erste Aufforderung, weil dann keine Zeit mehr für die Mitarbeit an der Entwicklungsarbeit bleibt.

Warum macht Harry das? Die Antwort ist: Er kann durch diese Paradoxie extremen Druck auf die Belegschaft ausüben. Egal, was die Mitarbeiter*innen tun, er kann sie immer zur Rechenschaft ziehen und behaupten, sie würden sich seinen Anweisungen widersetzen. Wer sich in der Weiterentwicklung der Grundlagentechnologie engagiert, bekommt zu hören: „Wenn wir heute kein Geld verdienen, brauchen wir über die Zukunft nicht zu reden!“ Und wer nur für den Kunden arbeitet: „Wenn wir nicht über die Zukunft reden, verdienen wir morgen kein Geld mehr!“ Egal, was die Mitarbeiter*innen tun, Harry deutet es als Vernachlässigung der Pflichten und kann so die Daumenschraube immer weiter anziehen.

Harrys Falle schnappt zu

Richtig toxisch wird es aber erst dadurch, dass Harry jeden Versuch, die Paradoxie zu thematisieren, torpediert, und sie wahlweise als Befehlsverweigerung („Ich habe mich doch klar ausgedrückt!“), als Inkompetenz („Wenn Sie das nicht können, finde ich jemand anderen“) als Anmaßung („Denken Sie, ich bin zu blöd, um das Unternehmen zu führen?“) oder als Fahrlässigkeit („Wollen Sie uns in den Ruin treiben?“) hinstellt. Damit schüchtert Harry die Mitarbeiter*innen ein und hat schnell Ruhe. Insbesondere diejenigen, die von ihrer Stelle abhängig sind, werden bald schweigen und sich ihrem Schicksal ergeben. Der einzige Ausweg führt über die Selbstausbeutung: In der vertraglichen Arbeitszeit für den Kunden arbeiten, in der Freizeit für die Weiterentwicklung der Grundlagentechnologie. Harry hat aus seiner Sicht alles richtig gemacht!

Und die Mitarbeiter*innen? Für sie sind die Folgen ausnehmend negativ. Selbstausbeutung und ein vermindertes Gefühl der eigenen Wirksamkeit führen zu Stress und Burnout. Hinzu kommt eine Atmosphäre der Angst und der Hilflosigkeit, die Harry das Aufrechterhalten seines Regimes leicht macht. Schlimmer noch: Wer sich immer wieder die eigene Inkompetenz vorhalten lassen muss, glaubt irgendwann daran. Spätestens dann schnappt Harrys Falle zu, weil die Mitarbeiter*innen die Fehler dann bei sich selbst suchen und nicht (mehr) bei ihm. Die Paradoxie kann so aber nicht aufgelöst werden. Die Abwärtsspirale nimmt (weiter) ihren Lauf.

Wir müssen reden!

Paratoxische Führung ist eine unethische Führungspraktik, die in Unternehmen weit verbreitet, aber selten thematisiert oder gar bekämpft wird. Oft ist ihr Einsatz so subtil, dass den Betroffenen überhaupt nicht bewusst ist, dass sie Opfer einer paratoxischen Führungskraft sind.

Zunächst ist es also wichtig, über paratoxische Führungspraktiken überhaupt zu sprechen und sie zu erkennen. Zu diesem Zweck habe ich das Konzept der paratoxischen Führung in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt, wende mich aber auch explizit an Betroffene aus der Praxis und rufe Betroffene hiermit dazu auf, ihre eigenen Erfahrungen mit paratoxischen Führungskräften publik zu machen und ihnen den Kampf anzusagen.

Der Forschungsartikel ist frei zugänglich (Open Access) bei der weltweit führenden wissenschaftlichen Zeitschrift der kritischen Führungsforschung Leadership erschienen und kann hier eingesehen werden (Julmi im Erscheinen).

Literatur

Julmi, Christian: Crazy, stupid, disobedience. The dark side of paradoxical leadership, in: Leadership (im Erscheinen), https://doi.org/10.1177/17427150211040693