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Vom Gespräch zum Gebelle: Die polarisierende Macht kollektiver Atmosphären in der Corona-Pandemie

Unsere gesellschaftlichen Diskurse laden sich atmosphärisch immer stärker auf und gehen mit einer Polarisierung der Gesellschaft einher. Der Beitrag diskutiert den Einfluss kollektiver Atmosphären auf die Diskurse der Corona-Pandemie und zeigt mit Blick auf die atmosphärische Führung Möglichkeiten der Deeskalation auf.

Die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft

In der Corona-Pandemie zeigt sich, dass unsere Diskurse immer weniger von Sachlichkeit, dafür zunehmend von kollektiven Atmosphären geleitet werden. Diese ergreifen die Menschen nicht nur spürbar, sondern leiten sie auch in ihren Worten (und Taten). Die Diskurse laden sich immer stärker atmosphärisch auf, verbunden mit einer zunehmenden Tendenz der Polarisierung in unserer Gesellschaft. Anstatt für oder gegen ein Argument zu sein, ist man dafür oder dagegen und sucht sich dann die passenden Argumente dazu.

Diese polarisierende Wirkung zeigt sich in der Pandemie darin, dass die Diskurse nicht nur in hohem Maße atmosphärisch aufgeladen sind, sondern sich auch immer weiter voneinander entkoppeln und sich überwiegend nur noch um sich selbst und die Denunzierung alternativer Sichtweisen drehen. Die – in einer Demokratie eigentlich erwünschte – Komplexität, Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit von gesellschaftlichen Diskursen wird auf unvereinbare Sachverhalte reduziert (z. B. ‚Nicht-impfen ist asozial‘ / ‚Nur Schafe lassen sich impfen‘), die das zugrundeliegende gemeinsame Problem (z. B. ‚Impfen ja oder nein?‘) nicht mehr anerkennt.

Die Offenheit geht in eine Geschlossenheit der sich selbstbestätigenden und damit reproduzierenden Diskurse über. Es entsteht diskursiver Krieg, der auf die Vernichtung der Gegenseite zielt, getragen von der Maxime des ‚Wir gegen die‘. Wer sich diesem Krieg der Worte nicht unterordnet, wird aus dem Diskurs ausgeschlossen oder zum Feind erklärt. Wer diesen Prozess aufbrechen will, kann dies nicht mit rationalen Argumenten, sachlichen Fakten oder menschlicher Vernunft tun, sondern muss die affektive Ebene als Treiber der Diskurse anerkennen und an ihnen ansetzen.

 

Die Sichtweise der atmosphärischen Führung

Hierfür bietet die atmosphärische Führung einen geeigneten Ansatz, denn ihre grundlegende Prämisse besteht darin, dass das, was wir auf einer affektiven Ebene spüren, unsere Kommunikation in hohem Maße leiten. Insbesondere der äußere Zirkel im System der atmosphärischen Führung zeigt, wie wirkmächtig das soziale Phänomen der Reziprozitätist und dass die Abwertung der Gegenseite (‚Wer sich nicht impft ist asozial‘) nicht dazu führt, dass diese einlenkt, sondern zum Gegenangriff ausholt (‚Wer andere zum Impfen nötigt ist asozial‘), was wiederum zum Gegenangriff führt und mit Kampfbegriffen wie Covidioten (Impfbefürworter) oder Schlafschafe (Impfskeptiker) die Eskalationsspirale immer weiter in die Höhe schraubt. Auf diese Weise lädt keine Seite die andere zum Umdenken ein, sondern radikalisiert sie.

Leider wird diese Eskalation der gegenseitigen Schuldzuweisungen auch von Politik und Medien betrieben. Wenn beispielsweise Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery von einer „Tyrannei der Ungeimpften“ spricht oder FDP-Vorstand Marie-Agnes Strack-Zimmermann über Impfverweigerer sagt, sie sollten sich „im Klaren darüber sein, dass sie nicht als Minderheit die Mehrheit terrorisieren dürfen“ (vgl. Wimalasena 2021), dann wirkt das nicht deeskalierend (oder gar fördernd auf die Impfquote), sondern treibt die soziale Spaltung weiter voran und zementiert die Impfskepsis der Gegenseite.

 

Ist eine Deeskalation überhaupt (noch) möglich?

Aus Sicht der atmosphärischen Führung lassen sich solche Eskalationsspiralen niemals nur mit Rhetorik und Argumentation lösen. Vielmehr muss die Deeskalation auf einer atmosphärischen Ebene ansetzen, indem der anderen Seite das Gefühl gegeben wird, respektiert und gehört zu werden. Voraussetzung hierfür ist, dass jemand wirklich gewillt ist, sich in die Position des anderen hineinzuversetzen. Dann merkt man vielleicht, dass die andere Seite gar nicht so radikal ist, sondern sich nur unter Druck gesetzt gefühlt hat; oder dass ungehörte Ängste in blinde Wut umgeschlagen sind; oder dass nicht jeder Impfbefürworter ein Impf-Diktator und nicht jeder Impfskeptiker ein Corona-Leugner ist; oder vielleicht sogar, dass auch die andere Seite gute Argumente hat.

Eine Deeskalation ist natürlich umso schwieriger, je verhärteter die Positionen sind, aber letztlich gibt es nur dann eine Chance auf sozialen Frieden, wenn man am eigenen Verhalten ansetzt und nicht am Verhalten der anderen. Die gute Nachricht ist: Darum muss man niemanden bitten und allenfalls sich selbst nötigen.

 

Literatur

Wimalasena, Jörg: Spalterische Rhetorik. Verbale Attacken gegen Impfgegner, https://taz.de/Verbale-Attacken-gegen-Impfgegner/!5812410/, 2021, zuletzt geprüft am 05.05.2022